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Der Mythos von der deutschen Einheit 1870/71

| Marc Heiland | Fachliteratur
Mythos1871Der Mythos von der deutschen Einheit prägt bis heute, so Tillmann Bendikowski, die Sicht der Deutschen auf sich selbst und ihre Geschichte. Zentrales Gründungsdatum dieses Mythos ist der Krieg gegen Frankreich und die anschließende Reichsgründung im Jahr 1870/71. Anhand der eingehenden Schilderung von neun symbolträchtigen Tagen werden entscheidende Abschnitte auf dem Weg zur deutschen Einigung unter Preußens Führung vergegenwärtigt: von der Flucht des Welfenkönigs aus Hannover ins österreichische Exil im Juni 1866 bis – nach der Proklamation des deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles – zur Siegesparade fünf Jahre später.
 
Rezension: Als Menschen aus dem Bürgertum, Studenten und Intellektuelle erstmals nach den Napoleonischen Befreiungskriegen den Wunsch nach einem „einigen“ Deutschland (das es damals in der heutigen Form lange noch nicht gab) artikulierten (den Bauern als solchen interessierte dies herzlich wenig), da waberte ein diffuses Bild von „Einheit“ durch die Köpfe der Männer. Als dann in Paris der Bürgerkönig Louis Philipp abgesetzt wurde, schlug der revolutionäre Gedanke 1848 auch nach Deutschland über. Doch auch hier scheiterte eine „Einheit“ unter anderem daran, dass die Abgeordneten im so genannten „Paulskirchenparlament“ sich nicht auf eine Linie einigen konnten, der preußische König die Kaiserkrone ausschlug und die Gegenbewegung der Adeligen (mit dem Heer im Rücken) zu stark war. Erst 1871, mit der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles, wurde „die deutsche Einheit gemacht“, wie Bismarck es formulierte. Die „Einheit von Oben“ mit einer Reichsverfassung, die ganz auf Otto von Bismarck als Reichskanzler und den preußischen König und Kaiser des deutschen Reichs zugeschnitten war, wurde jedoch nur von einem Teil der Bevölkerung mitgetragen. Der „Mythos“ von der deutschen Einheit war in der Welt.
Diesen versucht nun der Autor des vorliegenden Buches, Tillmann Bendikowski, aufzulösen. Hierzu schaut er sich sowohl die Seite der Reichsregierung und ihrer beiden mächtigen Protagonisten, als auch die der Gegner der „deutschen Einheit“ an. Dabei rafft er einige Handlungen und setzt den Prozess der Einheit in Kapiteln dem Leser vor. 
Doch im Grunde genommen ist sein Beitrag nichts Neues. Viele Historiker vor ihm haben den „Mythos“ bereits entlarvt und sich in ihrer Betrachtung intensiv mit allen Seiten auseinandergesetzt. Schon in den Schulbüchern erfahren die Schülerinnen und Schüler, wie es zur Einheit kommen konnte. Sie lesen über die „Reichseinigungskriege“, erfahren von Bismarcks Schachzügen, um die Einheit zu erreichen (u.a. durch die so genannte „Emser Depesche“, die Finanzierung der Schlösser Ludwig II.) und erkennen, dass es multiperspektivische Lesarten zur Reichseinigung gibt. Denn natürlich gab es nicht nur Befürworter im Deutschen Reich. Viele wollten ganz andere Wege beschreiten, andere Staatsformen anstreben oder hatten überhaupt kein Interesse an der Politik Bismarcks. Von den Fürsten über die Demokraten bis hin zu verschiedenen Bevölkerungsgruppen war der Widerstand vorhanden. Doch mangels alternativer Möglichkeiten, einer einheitlichen Linie, Macht und Einfluss etc., konnten sie sich nicht durchsetzen. 
 
Insofern gibt es hier keine wirklich spannenden und interessanten Thesen, die untersucht werden, keine neuen Ansätze, die der Autor anbietet, sondern „nur“ eine geraffte Sicht auf die Geschehnisse 1870/71 im Kontext dessen, was davor und danach passierte in einer Form, dass sie das breite Publikum verständlicher lesen kann als bei einigen Historikern oder Uni-Professoren in deren Büchern. Wer auf der Suche nach einer verständlich geschriebenen Zusammenfassung der Ereignisse rund um die Reichsgründung „von oben“ sucht, der wird hier fündig. Wer neue Ansätze sucht (bedarf es dieser überhaupt noch?), liest bei der einschlägigen Literatur von Winkler, Clark und Co nach.
 
Titel: Der Mythos von der deutschen Einheit 1870/71
6Autor: Tillmann Bendikowski
Verlag: C. Bertelsmann
ISBN: 978-3-570-10407-1
 
Die inn-joy Redaktion vergibt 6 von 10 Punkten.
 
Die inn-joy Redaktion bedankt sich bei der Verlagsgruppe Randomhouse für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.
 
L. Zimmermann

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