„Claire Obscure: Expedition 33“ oder: eine Liebeserklärung an die „guten alten Zeiten“ (PS5-Review)
Ich spiele seit nunmehr über 30 Jahren Computerspiele, um mir einleitend ein - selbstverständlich subjektives - Bild der momentanen Ist-Situation am Gaming-Markt zu erlauben: Immer weniger neue Marken schaffen sich zu etablieren, weil alteingesessene Entwicklerstudios nur noch auf Altbewährtes setzen, immer weniger Risikobereitschaft zeigen und im jährlichen Rhythmus Spiele herausbringen, bei denen vielleicht ein paar Namen, das Setting oder irgendetwas anderes verändert wurde.
Im Prinzip bleibt aber das Grundgerüst gleich. Beispiele gefällig? Vormals FIFA jetzt FC, Call of Duty oder Assassin’s Creed. Bei FC ändern sich die Trikots und die Jubelanimationen, bei CoD eigentlich nichts, bei AC das Setting. Neuerdings pressen sie bei Ubisoft Spiele zusätzlich durch die Diversitätsschablone. Schließlich will man ja niemanden ausgrenzen, unbedingt zum Erbrechen politisch korrekt sein und ein Hauch von Erziehung soll auch ins Game. Dass viele Spiele mit diesem Konzept zuletzt krachend gescheitert sind (nicht wahr, Dragon Age?), interessiert anscheinend herzlich wenig. Gerade bei Assassin‘s Creed hat man seit längerer Zeit das Gefühl, man spielt immer wieder dasselbe Spiel nach dem ewig-selben Prinzip: Man klettert auf einen Turm, um anschließend eine viel zu große Open World abzugrasen. Dabei bewies Nintendos „Zelda: Breath of the Wild“ eine herausragende Neuinterpretation von Open World Spielen. Man muss sich halt nur mal Gedanken machen. Und weil ich grade so heißlaufe, zusätzlich on top: Modernes (Konsolen-)Gaming kurz erklärt: Man kauft ein völlig verbugtes, halb-fertiges Spiel, das erst Wochen nach Release fertig-gepatcht und spielbar geworden ist, aber immerhin kann man sich mit Echtgeld-Käufen das digitale Leben versüßen und eine goldene Knarre oder eine leuchtende Rüstung für läppische 15 € gönnen. Wozu der Geiz? YOLO! Ein halbes Jahr nach Release folgt ein überteuerter DLC und weil dieser passend zum Welttag des Marienkäfers released wurde, erhält man die streng limitierte Maikäfer-Rüstung im Angebot des sorgloses-Leben-Pakets. So, und jetzt denkt sich der ein oder andere Leser: „Ich lese eine Review zu „Claire Obscure: Expedition 33“, und er holt vom Urschlamm aus und schreibt sich über aktuelle Spiele und Ubisoft wund. Was hat das mit Claire Obscure zu tun?“ Ein Name: Guillaume Broche. Falls euch jetzt „Hä? …Wer?“ durch den Schädel schießt, seid ihr nicht allein. Ich gebe zu, ich hatte diesen Namen auch vorher nicht gehört.
Herr Broche ist Spieleentwickler. Und bis vor kurzem ausgerechnet bei Ubisoft. Bis der Herr sich dachte, dass er bei Ubisoft zu gelangweilt gewesen sei und Lust auf etwas anderes hatte. Also sucht sich Herr Broche ein Team zusammen und überzeugt teils hochkarätige Schauspieler wie Andy Serkis von seiner Idee. Herausgekommen ist eine Liebeserklärung an sein eigenes Handwerk, das Spieleentwickeln, die jetzt schon nach dem Titel „Game of the Year“ schreit. Herausgekommen ist ein Produkt, das sowohl bei der Wertung als auch bei den Verkaufszahlen durch die Decke schießt. Und als zynischer Beobachter der Gamingindustrie denkt man sich: Ach, siehe da. Ein Vollpreisspiel für 49,99 €. Eine Entwicklungszeit von knapp fünf Jahren. Zu allem Überfluss: es kommt weder ein Teil 2 noch ein DLC. Ja, nicht mal mit Kosmetika kann ich mein Geld pulverisieren. Keine Spur von der sprichwörtlichen Kuh, die unter allen Umständen gemolken werden muss. Seltsam. Irgendwie klang das doch bei den großen Publishern immer so, als habe man keine andere Möglichkeit, als Spiele für 70 € aufwärts anzubieten, weil man so hohe Kosten habe. Bei AC:Shadows lag das Budget bei schwindelerregenden 350 Millionen Dollar. (Schätzungsweise.) Oder gab es nicht Aussagen, wie dass gute Spiele halt ihre unfassbar lange Entwicklungszeit bräuchten (#ElderScrolls6)? Und aus dem Nichts kommt ein neues Studio daher und haut gleich als erstes Spiel ein Meisterwerk heraus. Aber wie kann das überhaupt möglich sein? Was macht das Spiel so unfassbar gut? Warum räumt es Tag um Tag Bestnoten ab? Wären wir da zunächst beim unspektakulären Teil: dem Gameplay. Claire Obscure schickt euch in viele einzelne Areale. Vergleichbar mit Dungeons aus anderen Spielen. Diese Dungeons sind quasi schlauchartig, ähnlich wie in God of War. Während ihr in diesen Arealen unterwegs seid, erkundet ihr die Gegend und kämpft in rundenbasierten Kämpfen gegen allerlei liebevoll gestaltete Fantasiewesen. Damit das Kampfsystem aber nicht schnell den Reiz verliert, wurden hier Echtzeitelemente hinzugefügt. So kann man ausweichen, im richtigen Moment kontern, oder in Quick-Time-Events das richtige Knöpfchen drücken, um maximalen Schaden anzurichten. In jedem Kampf erhaltet ihr Aktionspunkte, die ihr auf verschiedene Arten verbraucht und wieder auffüllt, um stärkere Attacken durchzuführen. Auch bei über 30 Stunden Spielzeit machen die Kämpfe immer noch unfassbar viel Spaß, da sie eine Mischung aus Strategie, Konzentration und Skills sind.
Beim Erkunden findet ihr dann sogenannte Pictos. Eigentlich nichts anders als ein innovativer Name für Perks. Sie haben aktive Boni und passive. Aktive sind beispielsweise ein Rüstungszusatz und eine erhöhte Krit-Chance. Die passive Fähigkeit ist der Perk selbst, zum Beispiel erhaltet ihr einen Aktionspunkt pro Ausweichmanöver. Diese Pictos müsst ihr aktiv ausrüsten und vier Kämpfe mit ihnen gewinnen. Somit erlernt ihr sie und ihr könnt dann diese Perks für alle Charaktere auswählen. Klingt kompliziert, wenn man sich aber erst einmal hineingefuchst hat, ist es kein großes Hindernis. Kommen wir nun zu den Punkten, mit denen das Spiel zu überzeugen weiß: die Grafik. Kurzum: das Spiel ist eine Wucht. Hand in Hand geht mit der Grafik die Spielwelt einher. Es wurde eine Welt mit atemberaubender Fantasie erschaffen. Die „Dungeons“ sind dabei so abwechslungsreich wie wunderschön. Von Unterwasser-Welten über im Sonnenuntergang blutüberströmten Schlachtfest bis hin zu Eis- und Wüstenwelten ist alles dabei. Dabei gibt es Landstriche, bei denen man kurz innehält, nur um die Gegend zu betrachten. Relativ schnell im Spiel trifft man auf die freundlichen Wesen, die Gestrale. Diese an Minions erinnernde Wesen sind unaufgesetzt witzig wie liebenswürdig. Sie helfen der Expeditionsgruppe mit allerlei Tipps, handeln mit uns oder reden so abgrundtief dämlichen Unfug, dass man nichts tun kann, außer zu schmunzeln. Die Welt saugt den Spieler praktisch in das Spiel hinein, die für absolutes Suchtpotenzial sorgt. Feinabgestimmt auf die Spielwelt ist der Soundtrack. Zumeist hören wir französische, klassische Musik, welche uns Opern-ähnlich in ihren Bann zieht. Während man sich beim Erkunden Zeit lässt, untermalt die Musik eine seltsam anmutende Idylle in einer doch eher feindlichen Welt. Diese springt dann zu hektischeren Stücken bei Kampfsequenzen, setzt dann bei den so vielen emotionalen Cutscenes herausragend sanfter ein oder auch mal ganz aus, um den Spieler völliger Stille auszusetzen. Einen derart guten Soundtrack habe ich das letzte Mal vor Ewigkeiten gehört. Chapeau! Und wenn euch das ganze noch immer zweifeln lässt, ob man dieses Stück digitale Kunst spielen sollte, kommt nun der absolute Joker bzw. das Beste am Spiel: die Story.
Claire Obscure nimmt auch mit auf eine emotionale Reise, die euch wirklich die Schuhe ausziehen wird und nicht selten die Kinnlade Richtung Keller stürzen lässt. Einen Vorgeschmack, auf alles, das da noch kommt, liefert der äußerst emotionale Prolog. Und der Prolog haut einen so um, weil die Entwickler eine Variable sehr gut zu nutzen wissen: die Zeit. Claire Obscure nimmt sich Zeit zum Erzählen. In zahlreichen Dialogen erhält man Informationen zu den einzelnen Charakteren, die sich nach und nach im Storyverlauf immer weiter öffnen. Und diese Charaktere sind so liebevoll geschrieben worden, dass man nach kurzer Zeit anfängt mit ihnen zu fühlen und jeden einzelnen ins Herz schließt. Jeder einzelne hat in dieser seltsamen Welt ein Päckchen zu tragen. Und jeder einzelne transportiert durch die Weltklasse animierten Charaktermodelle sowie Cutscenes die volle Breite der Emotionen. Wut, Trauer, Angst, Verlustschmerz, Freude. In keinem anderen Spiel fühlen sich die Figuren so lebendig an. Unterm Strich haben die Entwickler verstanden, dass eine gute Idee, eine gute Story essenziell für ein gutes Spiel ist. Und diese Story versteht man Stück um Stück, Spielstunde um Spielstunde immer besser. Und je weiter man im Spiel kommt, desto mehr verfällt man ins Staunen.
Die teils längeren Cutscenes sind die besten, die ich jemals in einem Spiel gesehen habe. Teilweise sind Abschnitte so gut geschrieben, dass ich nach dem Spielen einer Sequenz, denselben Abschnitt auf YouTube noch einmal schaute, nur um ihn noch einmal zu erleben. Wie soll man dieses Spiel also zusammenfassen? In einem Wort: Mutig. Das Spiel ist so mutig gewesen, einen völlig anderen Weg zu gehen, als sich einen der unzähligen bereits bekannten Pfade zu bedienen. Es ist mutig, weil es in den entscheidenden Moment ruhig, ja still ist, anstatt die x-te bunte Explosion nach dem Hause Marvel zu zünden. Und es ist mutig, weil es Humor nur sehr dosiert einsetzt. Aber dieser zündet dann umso besser. Es ist mutig, weil es anders ist. Das aber mit so viel Liebe, Hingabe, Detailverliebtheit, Ideenreichtum und Mut entwickelt wurde, dass dieses Anderssein mit Sicherheit in Zukunft die Vorlage für nachkommende Spiele sein wird oder werden sollte. Wenn Guillaume Broche und sein geniales Team also etwas bewiesen haben, dann das Folgende: Es braucht weder über 350 Millionen Dollar an Budget, noch 25 Jahre Entwicklungszeit, um ein Spiel herauszubringen, dass die Masse begeistert. Es braucht nur eine Idee. Und unfassbar viel Herzblut. Daher, hochachtungsvoll: Merci, Monsieur Broche!